Erwin
Bechtold
23.4.23 – 20.8.23
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Erwin Bechtold war ein charismatischer Künstler. Neugierig, wach und aufmerksam. Direkt und pragmatisch. So begeisterungsfähig wie begeisternd. Einfühlsam und streitbar zugleich.

1925 in Köln geboren, lastet von Kindheit an die Erwartung auf ihm, in die väterliche Druckerei einzutreten. Widerwillig absolviert er die Ausbildung zum Drucker und Schriftsetzer bis zum Meistertitel, studiert kurzzeitig Typografie an den Kölner Werkschulen, um dann gegen den Willen seines Vaters in die Klasse für Freie Malerei zu wechseln.

Ohne familiären Rückhalt und jegliche Absicherung trifft Bechtold die Entscheidung, Künstler zu werden. Den Bruch mit der Familie nimmt er im vollen Bewusstsein um das damit verbundene Risiko auf sich. Eine »schwierige persönliche Entscheidung«, wie er sich erinnert. Aber die einzige, die er vor sich selbst vertreten kann. Kompromisse geht er zeitlebens nicht ein.

Auf sich allein gestellt, verlässt er Deutschland und geht 1950 nach Paris. Den erstarrten gesellschaftlichen Konventionen und sozialen Rollen entkommen, fühlt er sich zum ersten Mal in seinem Leben frei und unverstellt. Er besucht die private Klasse von Fernand Léger und entdeckt eine bis dahin nur erträumte Welt aus Kunst, Musik und Literatur für sich.

In Paris verbringt Bechtold eine »berauschende Zeit«, aber aufgrund finanzieller Not und seiner Sehnsucht nach künstlerischer Unabhängigkeit übersiedelt er 1951 nach Barcelona, in Francos Spanien. Dort schlägt er sich mit der Gestaltung von Bucheinbänden durch. Diese wählt er allerdings mit Bedacht. Die Textsammlung más allá del existencialismo: una filosofia del ser y dignidad del hombre wirft etwa genau jene existenziellen Fragen nach dem Dasein und der Würde des Menschen auf, die ihn sein Leben lang beschäftigen werden.

In Barcelona findet er Anschluss an die antifrancistische Künstlergruppe Dau al Set und lernt Antoni Tàpies und Antonio Saura kennen. Angeregt von Kubismus und Konstruktivismus, von Klee und Miró, vom Abstrakten Expressionismus und Informel formuliert er eine weit über Spanien hinausreichende künstlerische Position, die er selbst unter den widrigsten politischen Umständen behauptet.

Bechtold hat seine erste Einzelausstellung 1956 in Barcelona. 1958 lässt er sich dauerhaft auf Ibiza nieder, pflegt aber lebhafte Künstlerfreundschaften in Europa und Amerika — beispielsweise mit Karl Fred Dahmen, dem Lehrer Günther Förgs. Zahlreiche Ausstellung führen zu engstirnigen Eklats und verdienten Würdigungen wie auf der 4. documenta oder durch die Fundació Joan Miró.

Die Ausstellung in Weidingen ist eine zutiefst persönliche Homage an Erwin Bechtold, der Brunhilde und Günther Friedrichs ein langjähriger Gesprächspartner, Vertrauter und enger Freund war. Ausgewählte Werke aus sechs Jahrzehnten entfalten ein unverwechselbares künstlerisches Lebenswerk mit all seinen Facetten und Wandlungen.

White Poster und Montage auf Draht, beide 1960, gehören zu den frühen, radikalen Gemälden, mit denen Bechtold auf die internationale Bühne tritt. Die Materialien wie Zeitungs- und Packpapier, Sand und Draht sind ärmlich und kunstfern, stammen sie doch unmittelbar aus der Lebenswelt. Jedoch gelingt es Bechtold eindrücklich, dem titelgebenden »weißen Poster«, gemeinhin passiver Träger von Botschaften, ein aktives Eigenleben zu verleihen, dem Gemälde durch den gefundenen Sand einen realen Ortsbezug zu geben und das engmaschig strenge Raster des Drahtes durch gestische Eruptionen zu kontern.

In der Montage auf Draht klafft darüber hinaus ein offenes Loch. Das Bild ist durchlässig geworden für die es umgebende Welt. Bechtold will diese nicht bloß abbilden, sondern seine Bilder sollen buchstäblich Teil der Welt sein. Den unerhörten Bildexperimenten der gleichaltrigen Pariser Affichisten Jacques Villeglé, Raymond Hains und Mimmo Rotella steht er damit in keiner Weise nach, ebenso wenig den Situationisten, denkt man an Asger Jorns und Guy Debords Fin de Copenhague, 1957.

Bechtold nimmt lebhaften Anteil am Trubel der Metropolen, jedoch wählt er den Gang nach Innen. Sein eigenes Denken und Empfinden bilden das Gravitationszentrum seiner künstlerischen Tätigkeit. In der Stille des Ateliers werden seine Bilder immer konzentrierter, ja sogar kontemplativer. Buntfarben und laute Kontraste werden spärlicher, bis schließlich in feinsten Nuancen Schwarz und Weiß zu seinen Farben werden.

Bechtold hat oft von der Störung in seinem Werk gesprochen. Ein Selbstzweck ist diese jedoch keineswegs. Vielmehr scheint es, als suche er eine äußere Ordnung, gegen die er sich auflehnen kann, um dadurch die eigene Haltung zu formulieren. Um eine solch freischwebende, zwischen Norm und Ausbruch ausgehaltene Unabhängigkeit geht es ihm. Biografisch und künstlerisch ist dies sein Lebensthema.

Ohne Dunkel könnte das Helle nicht strahlen, ohne Härte das Weiche nicht zart sein, ohne geometrische Form das Organisch-Gestaltlose sich nicht entwickeln, ohne Linie könnte die Ausbreitung der Fläche nicht erfahren werden, ohne Rationalität ginge die expressive Intuition ins Leere und ohne äußere Welt gäbe es keine inneren Vorstellungen.

Bechtolds gesamtes Werk ist bestimmt von diesen elementaren Gegensätzen. Harmonie ist nichts Gegebenes, sondern entsteht aus der mühevollen Balance der gegenstrebigen bildnerischen Elemente. Seit den 1970ern wird sein Vorgehen zunehmend analytischer. Akribisch fragend erschließt er sich sein eigenes Bild: Was ist Fläche? Linie? Was das Format? Was geschieht links, rechts, oben, unten? Was in der Mitte, im Zentrum des Bildes?

Auf die weiße Leinwand von Thema Winkelkonzentration, 1993, trägt Bechtold eine unregelmäßige Fläche aus dichtem, weißgrauem Sand auf. In deren Oberseite schneidet wiederum ein tiefschwarzer rechter Winkel, dessen Schwarz ausstrahlt und selbst eine rechteckige Fläche bildet. Ein dunkles Echo des lichten Bildformats. Formen überlagern sich, stoßen sich voneinander ab und ergeben doch ein spannungsvolles Ganzes. Ein stetes Ringen der Einzelform um den eigenen Ort inmitten Ganzen des Bildes.

In diesem Sinn zerbrechen auch die beiden Gemälde Zum Thema Incisión, 2000, nicht an ihren Einschnitten oder Einschüben. Die bestehende Bildordnung wird zwar durch den in den sandigen Grund geschnittenen Winkel oder den derben roten Balken in Frage gestellt, bildnerisch aber löst Bechtold diese Spannungen auf. Die Linien durchtrennen nicht einfach die Fläche, sondern umreißen als gewinkelte Bänder bereits ihren eigenen Ort auf der Fläche.

Nur, was auseinander steht, kann sich einander zuneigen — wie im Großen Winkelbild oder dem Geteilten Winkelbild 2, beide 2003, und besonders in der zwölfteiligen Bildreihe Discordia, 2007. Harmonie als solche lässt sich kaum darstellen, ohne ihre einzelnen Bestandteile aufzuheben. Eintracht, um mit Bechtold zu sprechen, entsteht vielmehr aus der Zwietracht der Elemente, die gleichberechtigt ausgetragen zu einem ausgewogenen Ganzen führt.

In die sandigen Gründe von Discordia spachtelt Bechtold eine massive Vertikale, meist in eben glänzendem Schwarz. Dieser wiederkehrenden Ordnungsform, gebieterisch ins Bildzentrum ragend, widersetzen sich sodann ebenfalls schwarze Balken, schlanke und bauchige Ovale, die sie wuchtig überschneiden. Diese aufrührerischen Formen sind pastos, besitzen Kerben und Löcher, sind schrundig wie Baumrinde. Fast, als prallten hier Geist und Natur schonungslos aufeinander.

Die drei schlanken Hochformate Signo 1–3, 2014, vermitteln Bechtolds ungebrochene Risikobereitschaft und Experimentierfreude. Erstmals ohne jenen Sandgrund, der über Jahrzehnte Erdung und Verortung seiner Gemälde ausdrückte, malt er wie in seinen frühsten Bildern nur mit Öl und Acryl. Die Flächenverschiebungen und Winkel, die Fragen nach dem Zentrum und den Rändern sind alle vorhanden, doch die Bilder erscheinen beinahe überzeitlich. Wie Flaggen stehen die schwarzen Formen auf dem Weiß der Leinwand, als aufrechte und selbstbewusste Positionszeichen eines bewegten Künstlerlebens.

Erwin Bechtolds gelebte Malerei verbindet stets beides, das Künstlerische und das Menschliche: »Der Mensch steht im Mittelpunkt meiner Arbeit — und er lebt, wie die Natur, in Kontrasten, Spannungen, Störungen. Wir sind in das Spiel der geordneten Unordnung, der ungeordneten Ordnung existenziell eingebunden. Meine Bilder sind der Versuch, diese komplexe Unergründlichkeit in die künstlerische Wirklichkeit umzusetzen.«
Erwin Bechtold was a charismatic artist. Curious, observant and attentive. Direct and pragmatic. As enthusiastic as inspiring. Empathetic and confrontational at the same time.

Born in Cologne in 1925, the expectations of joining his father’s print shop weighed heavily on him from childhood on. Unwillingly, he completed his training as a printer and typesetter until he became a master craftsman, briefly studied typography at the Cologne Werkschulen and eventually, against his father’s wishes, he entered the painting class.

Without family support and any security, Bechtold decided to become an artist. He accepted the break with his family, fully aware of the risks involved. A »difficult personal decision,« as he recalls. It was the only one, though, he could justify to himself. He never compromised throughout his life.

All on his own, he leaves Germany for Paris in 1950. Having escaped the rigid social conventions and roles, he feels free and undisguised for the first time in his life. He attends Fernand Léger’s private class and discovers a world of art, music and literature that, until then, he had only dreamed of.

Bechtold spent an »exhilarating time« in Paris but due to financial hardship and his longing for artistic independence, he relocated to Barcelona, Franco’s Spain, in 1951. He struggles along by designing book covers, however picks these commissions carefully. The collection of texts más allá del existencialismo: una filosofia del ser y dignidad del hombre, for example, raises precisely those existential questions about existence and human dignity, which would occupy him throughout his life.

In Barcelona he gets to know the anti-francist artist group Dau al Set and meets Antoni Tàpies and Antonio Saura. Inspired by Cubism and Constructivism, by Klee and Miró, by Abstract Expressionism and Informel, he establishes an artistic position, influential far beyond Spain, which he maintains even under the most adverse political circumstances.

Bechtold has his first solo exhibition in Barcelona in 1956. In 1958 he settles permanently in Ibiza, but fosters lively artist friendships in Europe and America—for example with Karl Fred Dahmen, the teacher of Günther Förg. Numerous exhibitions result in narrow-minded éclats and well-deserved honors, at the 4th documenta or by the Fundació Joan Miró among many others.

The exhibition in Weidingen is a deeply personal homage to Erwin Bechtold, who was a long-time dialog partner, confidant and close friend to Brunhilde and Günther Friedrichs. Selected works from six decades unfold a unique artistic life with all its facets and transformations.

White Poster and Montage auf Draht, both 1960, are among the early, radical paintings, with which Bechtold enters the international stage. The materials, such as newsprint and wrapping paper, sand and wire, are poor and non-artistic, as they do stem directly from the living world. However, Bechtold succeeds in giving the titular »white poster,« commonly a passive carrier of messages, an active life of its own, in giving the painting a real sense of place by means of the found sand and in countering the strict and tightly meshed wire grid with gestural eruptions.

What is more, a wide hole gapes in the Montage auf Draht. The image has become permeable to the surrounding world. Bechtold does not merely want to depict this world, but his paintings should literally be part of it. In this, he is in no way inferior to the unheard-of pictorial experiments of his peers, the Parisian Affichists Jacques Villeglé, Raymond Hains and Mimmo Rotella or the Situationists, if one thinks of Asger Jorn’s and Guy Debord’s Fin de Copenhague, 1957.

Bechtold actively takes part in the hustle and bustle of the metropolises, yet chooses to go inward. His own thought and sensibility form the gravitational center of his artistic practice. In the calm of the studio, his paintings become increasingly concentrated, even contemplative. Bright colors and loud contrasts become sparse, until finally, in the finest nuances, black and white remain as his colors.

Bechtold has often spoken of the disruptions in his work. However, these are by no means an end in themselves. Rather, it seems as if he is looking for an external order or structure, against which he can rebel in order to formulate his own attitude thereby. It is such free-floating independence, held between norm and outburst, he is concerned with. Biographically and artistically, that’s his life’s theme.

Without darkness brightness could not shine, without hardness softness couldn’t be tender, without geometric form organic formlessness could not develop, without lines the expanse of the plane couldn’t be fathomed, without rationality intuitive expressiveness would miss its mark and without the outer world there wouldn’t be inner ideas.

Bechtold’s entire œuvre is guided by these elementary opposites. Harmony is nothing given but arises from the laborious balance of opposing pictorial elements. Since the 1970s, his approach gets increasingly analytical. Meticulously questioning, he accesses his own image: What is surface? Line? What’s the format? What happens on the left, on the right, above, below? What in the middle, in the center of the picture?

On the white canvas of Thema Winkelkonzentration, 1993, Bechtold applies an irregular shape in dense, white-gray sand. In turn, a black right angle cuts into its upper side, the black radiating out, itself creating a rectangular form. A dark echo of the bright image format. Forms overlap, repel each other and yet result in an exciting whole. A constant struggle of the individual form for its own place amidst of the whole of the painting.

In this sense, the two paintings Zum Thema Incisión, 2000, do not break down, either, due to their incisions or insertions. The existing pictorial order is indeed called into question by the angular cut into the sandy ground or the rough red bar, however pictorially Bechtold resolves these tensions. The lines do not merely dissect the surface, as angled bands they outline their own place on the surface.

Only what stands apart, can lean towards each other—as in the Großes Winkelbild or the Geteiltes Winkelbild 2, both 2003, and particularly in the twelve-part series of paintings Discordia, 2007. Harmony as such can hardly be depicted without cancelling out its individual components. Unity, to speak with Bechtold, arises rather from the discord of its elements, which, acted out equally, leads to a balanced whole.

Into the sandy grounds of Discordia, Bechtold scrapes a massive vertical, mostly in evenly glossy black. This recurring form of order, imperiously towering in the paintings’ center, is countered by black bars, slender and bulbous ovals, which cut across it. These rebellious forms are thickly painted, they have notches and holes and are chapped like tree bark. Almost as if mind and nature clashed relentlessly here.

The three slim formats Signo 1–3, 2014, convey Bechtold’s unbroken willingness to take risks and experiment. For the first time without the very sandy ground, which for decades signified grounding and location in his paintings, he only uses oil and acrylic, as in his earliest paintings. The planar shifts and angles, the inquiries into center and edges are all there, still the paintings seem almost a-temporal. Like flags, the black forms hover upon the white of the canvas, as upright and self-confident positional signs of a touching artist’s life.

Erwin Bechtold’s lived practice combines both, the artistic and the human, always: »Man is at the center of my work—and lives, like nature, in contrasts, tensions, disturbances. We are existentially involved in the play of ordered disorder, disordered order. My paintings are an attempt to translate this complex inscrutability into artistic reality.«